Istrien: Das Land der Legenden
Gračišće liegt im Herzen der Halbinsel Istrien und ist ein typisches, malerisches Städtchen mit Stadtmauern und umgeben von grünen Feldern. Und wie an den meisten Orten in Istrien erzählt man sich auch hier viele Geschichten.
Die Einheimischen werden Sie auf die Nägel hinweisen, die in die Tür der Pfarrkirche geschlagen wurden. Es heißt, dass diese Nägel von den einheimischen Frauen als Teil eines Fruchtbarkeitsrituals dort angebracht wurden. Das Einschlagen eines Metallstücks sollte die Aussichten auf die Geburt von Kinder erhöhen. Doch es gab einen Haken: Nur wenn die Nägel mit bloßen Händen eingeschlagen wurden, sollte der Zauber tatsächlich wirken. So düster die Geschichte von Gračišće erscheinen mag, so ist sie doch auch eine lebensbejahende Erzählung von Mühe und Erfolg. Viele der traditionellen Erzählungen Istriens sind weit aus dunklerer Natur.
Der erste Vampir Europas: Jure Grando
Ein historischer Zugang in die Welt der istrischen Legenden bietet die Erzählung von Jure Grando, einem Bauern aus dem Dorf Kringa. Die Siedlung aus grauen Steinen erstreckt sich westlich von Pazin auf einem grünen Bergrücken. Grando gilt als der erste historisch belegte Vampir Europas. Er starb 1656, was ihn jedoch danach nicht daran hinderte, durch das Dorf zu wandeln, an die Türen der Nachbarn zu klopfen und, was am skandalösesten war, seine Witwe in ihrem Schlafgemach zu besuchen. Die Einwohner von Kringa beklagten sich, dass sie aufgrund der Zaubersprüche des untoten nächtlichen Wanderers krank wurden. Sie verlangten, Grandos Leiche auszugraben und zu untersuchen. Priester und Weise wurden nach Kringa gerufen, um sich der Sache anzunehmen. Letztendlich wurde Grandos Leiche enthauptet, und er wagte es nicht mehr, das Dorf zu belästigen. Grando, der nicht mehr aus dem Grab auferstehen konnte, wurde dank des slowenischen Universalgelehrten Johann Weichard von Valvasor, der Kringa einige Jahre später besuchte und die Einheimischen zu dem Fall befragte, zumindest in gedruckter Form verewigt. Valvasor veröffentlichte seine Erkenntnisse 1689 in seinem mehrbändigen Werk „Die Ehre dess Hertzogthums Crain“. Die Erzählung von Grando verbreitete sich und reihte sich in die Reihe der Vampirgeschichten ein, die damals unter gebildeten Lesern in Europa kursierten.
Es ist bedauerlich, dass das europäische Vampirerbe an den Schlössern Transsilvaniens verortet wird und nicht dort, wo es eigentlich seien Ursprung hat − in den malerischen Hügelstädten der Halbinsel Istrien. Das ist vor allem Bram Stoker zuzuschreiben, der seinen Bestseller Dracula von 1897 in den nebelverhangenen Bergen des fernen Rumäniens angesiedelt hat und nicht an einem Ort, an dem der Glaube an Vampire tief in den örtlichen Überlieferungen verwurzelt war. Jure Grando ist das Paradebeispiel eines Štrigun, eines istrischen Hexenmeisters, der in der Lage war, die Einheimischen und ihre Gemeinschaften mit einem bösartigen Zauber zu belegen. Das volkstümliche Bild vom Štrigun überschnitt sich häufig mit dem eines Vampirs: Štriguni waren nachts aktiv und entstiegen manchmal nach dem Tod dem Grab. Das Vorhandensein eines Štrigun half in der ländlichen Gesellschaft, die häufigen Nöte zu erklären. Die Schuld für Missernten, Viehseuchen oder häusliches Unglück konnte dem Štrigun zugeschoben werden. Für Schlaflosigkeit, Lustlosigkeit oder langwierige Krankheiten war hingegen eine Mora verantwortlich, ein weiblicher Geist, der nachts das Bett des Opfers heimsuchte. Ein Vorläufer des modernen Superhelden war der Krstnik, ein Einheimischer, der, gesegnet mit dem Wissen über das Übernatürliche, einen Štrigun oder eine Mora in die Flucht schlagen konnte.
Der sanfte Riese aus Istrien: der Große Jože
Jure Grando hat es nie wirklich in die Welt der Populärliteratur geschafft, ein volkstümlicher Archetyp Istriens aber schon. Vladimir Nazors fiktive Schöpfung „Veli Jože“ oder „Großer Jože“ wurde 1908 veröffentlicht und steht noch heute auf dem Lehrplan kroatischer Schulen. Das Werk nutzt traditionelle epische Erzähltechniken, um eine moderne istrische Fabel zu schaffen. Nazors „Großer Jože“ ist ein großer, muskulöser, aber gutherziger Kerl, der nach jahrelanger Demütigung durch die örtliche Obrigkeit schließlich den Spieß umdreht. Nazor hatte die Idee zu dieser Geschichte, als er als junger Lehrer durch Istrien reiste. Er sah die hiesigen Bauern, die unter der Last ihrer Pflichten gegenüber Steuereintreibern und Staatsbeamten stöhnten. Veli Jože, der sanfte Riese, war für Nazor eine Metapher für die Würde der istrischen Bauern und ihren Kampf für soziale Gerechtigkeit.
Istriens berühmter Pirat: Henry Morgan
Eine der dramatischsten Geschichten spielte sich zunächst gar nicht in Istrien ab, sondern in den Gewässern der Karibik, wo der walisische Pirat Henry Morgan auf Geheiß der englischen Krone in Mittelamerika plünderte. Als er gezwungen war, sich zurückzuziehen und nach London zurückzukehren, (und an dieser Stelle betreten wir das Reich der istrischen Legende) lud Morgan die Reste seines Schatzes auf und segelte in Richtung Adria. Der alternde Haudegen vergrub seine Reichtümer in Dvigrad, hoch über den Ufern des Limski-Kanals in Istrien. Dort ließ er sich mit seiner Mannschaft nieder, um den Rest seiner Tage zu verbringen. Es gibt tatsächlich ein Dorf namens Mrgani, südöstlich von Poreč, in dem ihre Nachkommen leben sollen. Bei einem so authentischen Ortsnamen sollte doch auch der Rest der Geschichte wahr sein.